Wissenschaftliche Überprüfung der Behauptungen aus der Netflix Dokumentation „Root Cause“.
Einleitung: Die australische Dokumentation „Root Cause“ (2018/2019) stellt eine Reihe von Behauptungen auf, wonach Wurzelkanalbehandlungen (endodontische Therapien) schwerwiegende systemische Krankheiten verursachen sollen. Diese Aussagen haben in der Fachwelt heftigen Widerspruch hervorgerufen. Im Folgenden werden die zentralen Thesen des Films – etwa der Zusammenhang von Wurzelbehandlungen mit Krebs oder Herzkrankheiten, die angebliche Dauer-Infektion wurzelbehandelter Zähne, historische Hintergründe (Dr. Weston Price) und die Idee von Zahn-Organ-„Meridianen“ – wissenschaftlich beleuchtet. Dabei stützen wir uns auf systematische Übersichtsarbeiten, Meta-Analysen, Einzelstudien und Stellungnahmen anerkannter Fachgesellschaften.
Hinweis: Die Dokumentation wurde im Februar 2019 von Netflix entfernt, nachdem sie von führenden zahnmedizinischen Fachgesellschaften wegen der Verbreitung wissenschaftlich widerlegter Behauptungen kritisiert wurde. Netflix hat sich nicht öffentlich zu den Gründen der Entfernung geäußert.
1. Wurzelkanalbehandlungen und systemische Krankheiten (Krebs, Herzleiden, CFS etc.)
Root Cause suggeriert, dass endodontisch behandelte Zähne Auslöser verschiedenster systemischer Erkrankungen seien – von Brustkrebs und Herzerkrankungen über chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS) bis hin zu Autoimmun- und neurologischen Leiden . Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es jedoch keine belastbaren Belege für solche generellen Zusammenhänge :
- Krebserkrankungen (insbes. Brustkrebs): Die oft zitierte Behauptung, „97 % aller Brustkrebspatientinnen hätten einen wurzelbehandelten Zahn auf der gleichen Körperseite wie den Tumor“, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage – entsprechende Daten wurden niemals in fachbegutachteter Form publiziert . Weder existieren Studien, die ein erhöhtes Krebsrisiko nach Wurzelkanalbehandlung zeigen, noch gibt es plausible biomedizinische Mechanismen dafür . Im Gegenteil berichten Epidemiologen, dass Menschen mit durchgeführter Wurzelkanalbehandlung in einigen Untersuchungen sogar ein niedrigeres Risiko für gewisse Krebsarten aufwiesen . Diese kontraintuitive Beobachtung wird so gedeutet, dass die erfolgreiche Behandlung chronischer Zahninfektionen die systemische Entzündungsbelastung senkt. Insgesamt gilt: „Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Wurzelkanälen und Krebs; nur weil jemand beides erlebt hat, heißt das nicht, dass das eine durch das andere verursacht wurde“ . Dieser Konsens wird von Fachorganisationen wie der American Association of Endodontists, der American Dental Association und der American Association for Dental Research eindeutig vertreten .
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Root Cause stellt die abenteuerliche Behauptung auf, die „Nr. 1-Ursache von Herzinfarkten sei ein wurzelbehandelter Zahn“ . Auch hierfür gibt es keine wissenschaftliche Evidenz . Weder in Kardiologie noch Zahnmedizin wird ein derartiger Zusammenhang anerkannt. Im Gegenteil: Eine große bevölkerungsbasierte Studie in Finnland ergab, dass Menschen mit wurzelgefüllten Zähnen ein geringeres Risiko, an kardiovaskulären Erkrankungen zu versterben, aufwiesen . Dieser Befund lässt sich dadurch erklären, dass behandelte Zahninfektionen keine chronischen Entzündungsreize mehr setzen, wohingegen unbehandelte Zahnherde (z.B. chronische Wurzelentzündungen) theoretisch zur systemischen Entzündung beitragen könnten. Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen Korrelation und Kausalität: Sowohl Herzkrankheiten als auch Zahnprobleme treten vermehrt bei denselben Risikogruppen (höheres Alter, Rauchen, Diabetes, schlechte Zahnpflege usw.) auf. Einige Beobachtungsstudien fanden statistische Assoziationen zwischen chronischen Zahnwurzelentzündungen (apikale Parodontitis) und Arteriosklerose bzw. Herzerkrankungen, andere Studien hingegen nicht . Einen kausalen Zusammenhang kann die Forschung bislang nicht belegen – die Überschneidung von Risikofaktoren bietet eine wahrscheinlichere Erklärung . Fachlich etablierte Risikofaktoren für Herzinfarkt sind z.B. Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Rauchen, Diabetes – aber nicht Wurzelkanalfüllungen.
- Chronische Müdigkeit, Autoimmunerkrankungen, neurologische Leiden: Der Filmemacher selbst macht seine zwei früheren Wurzelbehandlungen für langjährige Beschwerden wie Müdigkeit, Angstzustände und Depression verantwortlich . Hierbei handelt es sich um eine rein anekdotische Vermutung ohne Beweiskraft. Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS) ist eine komplexe Erkrankung ungeklärter Ätiologie – kein wissenschaftlicher Bericht führt einzelne devitale Zähne als Ursache an. Ebenso gibt es keine Studien, die Multiple Sklerose, Rheuma, Lupus oder andere Autoimmunleiden systematisch mit endodontisch behandelten Zähnen in Verbindung bringen. Solche Behauptungen entstammen zumeist Fallberichten oder spekulativen Artikeln in der alternativmedizinischen Literatur. Anerkannte Expertengremien betonen, dass kein mechanistischer oder epidemiologischer Beweis für diese unterstellten Zusammenhänge existiert . Vielmehr besteht die Gefahr, dass Patienten durch solche Falschinformationen von den realen Ursachen und evidenzbasierten Therapien ihrer Erkrankungen abgelenkt werden .
Zwischenergebnis: Nach aktuellem Forschungsstand gibt es keinen wissenschaftlich gesicherten Zusammenhang zwischen korrekt durchgeführten Wurzelkanalbehandlungen und dem Auftreten von Krebs, Herzleiden oder anderen chronischen Erkrankungen . Die in Root Cause genannten auffälligen Prozentzahlen (z.B. „98 % der Brustkrebspatientinnen…“) lassen sich dadurch erklären, dass Wurzelkanalbehandlungen sehr häufig sind – weltweit hat etwa die Hälfte der Menschen im Laufe ihres Lebens mindestens einen wurzelbehandelten Zahn, oft sogar mehrere . Es wäre also rein statistisch erstaunlich, wenn schwer erkrankte Patienten keine Wurzelkanalfüllungen in der Vorgeschichte hätten. Mit Kausalität hat dies nichts zu tun. Fachleute warnen eindringlich davor, aufgrund solcher Mythen auf notwendige Zahnbehandlungen zu verzichten oder gar gesunde Zähne ziehen zu lassen – dies könne am Ende der Gesundheit weit mehr schaden als nutzen.
2. Behauptung: Wurzelbehandelte Zähne seien dauerhaft mit Bakterien infiziert und „toxisch“
Der Film propagiert die Idee, dass ein endodontisch behandelter Zahn im Grunde ein „toter“, eitergefüllter Fremdkörper im Mund sei, der ständig Bakterien und deren Gifte („Toxine“) freisetze. Diese Behauptung ist durch aktuelle Studien nicht belegbar. Richtig ist zwar, dass in einem devitalen, wurzelgefüllten Zahn kein eigener Blutkreislauf mehr vorhanden ist – trotzdem ist ein solcher Zahn nicht per se ein chronischer Infektionsherd.
Ein fachgerecht durchgeführte Wurzelkanalbehandlung zielt gerade darauf ab, alle lebenden oder abgestorbenen Gewebereste sowie möglichst alle Bakterien aus dem Wurzelkanalsystem zu entfernen . Der Hohlraum wird desinfiziert (z.B. mit Spüllösungen wie Natriumhypochlorit) und anschließend mit einem dichten Füllmaterial (Guttapercha/Sealer) versiegelt, um eine Neubesiedelung zu verhindern . Damit werden die Keime, die die ursprüngliche Infektion verursacht haben, weitgehend eliminiert. Studien zeigen, dass nach einer Wurzelkanalaufbereitung die Keimzahl um >99 % reduziert werden kann. Absolute Sterilität im mikroskopischen Maßstab ist zwar kaum erreichbar, aber mögliche verbliebene Bakterien sind in winzigen isolierten Dentinkanälchen „eingemauert“ und erhalten keine Nährstoffe mehr . Sie können folglich keinen aktiven Infektionsprozess unterhalten.
Wichtig ist auch: Der umgebende Kieferknochen und das Immunsystem sind weiterhin aktiv. Ein wurzelbehandelter Zahn ist über das Parodontalligament (die Fasern, die den Zahn im Knochen verankern) immer noch in den Körper eingebunden und wird dort physiologisch überwacht . Wird z.B. bei der Behandlung oder durchs Kauen ein Bakterium in die umliegende Gewebsflüssigkeit gedrückt, stehen Abwehrzellen bereit, um dieses unschädlich zu machen . Unser Immunsystem ist äußerst effizient – selbst beim täglichen Zähneputzen gelangen regelmäßig Bakterien ins Blut, doch sie werden meist binnen Sekunden eliminiert . Ein korrekt gefüllter Wurzelkanal stellt daher keine Dauer-“Vergiftung” des Körpers dar.
Die Vorstellung wurzelbehandelte Zähne seien „toxisch“ stammt ursprünglich aus frühen Laborexperimenten (1910er/20er Jahre), in denen man Bakterien aus infizierten Zähnen isolierte und deren Stoffwechselprodukte (z.B. Schwefelverbindungen) analysierte. Moderne Toxikologie misst solchen Befunden jedoch keine klinische Relevanz bei, da diese Gifte im Mund in minimaler Menge anfallen und vom Körper abgepuffert werden. Es gibt keinen Nachweis, dass Personen durch im Zahn verbliebene Bakteriengifte erkranken. Die American Association of Endodontists stellt klar: „Diese Behauptung beruht auf längst widerlegter, vor fast 100 Jahren durchgeführter Forschung… Es gibt keine validen wissenschaftlichen Belege dafür, dass eine Wurzelbehandlung Krankheiten in anderen Körperregionen verursacht.“ . Ebenso betont die British Dental Association, dass kein Zusammenhang zwischen wurzelbehandelten Zähnen und z.B. Krebs besteht .
Selbstverständlich kann es in Einzelfällen vorkommen, dass ein wurzelbehandelter Zahn trotz Therapie bakteriell besiedelt bleibt oder wieder undicht wird – dann entsteht eine erneute Entzündung an der Wurzelspitze (erkennbar als Abszess oder Granulom). In solchen Fällen spricht man von einer Wurzelkanal-Fehlerfolg; die empfohlene Maßnahme ist dann eine Revision (erneute Reinigung und Füllung) oder – falls nicht anders möglich – die Extraktion des Zahnes. Entscheidend ist: Solche Fälle sind die Ausnahme, nicht die Regel. Eine persistierende Infektion macht sich lokal bemerkbar (Schmerz, Schwellung, Eiterbildung) und wird behandelt. Die pauschale Aussage, jeder wurzelbehandelte Zahn sei ein chronischer Infektions- und Giftherd, ist wissenschaftlich widerlegt . Milliarden von Menschen leben beschwerdefrei mit wurzelbehandelten Zähnen – wäre daran etwas „hochtoxisch“, würde sich das längst in Form einer epidemiologischen Auffälligkeit zeigen.
3. Behauptung: Wurzelkanäle können nicht sterilisiert werden und führen zu systemischer Bakterienbelastung
Diese These überschneidet sich mit Punkt 2, zielt aber speziell auf die Idee ab, ein gefüllter Wurzelkanal bleibe immer ein „bakterieller Sumpf“, aus dem ständig Erreger in den Körper schwämmen. Auch dies hält einer faktenbasierten Überprüfung nicht stand.
Tatsächlich ist die vollständige Abtötung aller Mikroorganismen in einem verzweigten Wurzelkanalsystem schwierig – deshalb spricht man in der Endodontie von Desinfektion statt Sterilisation. Entscheidend ist jedoch: Nach der Desinfektion wird der Hohlraum dicht verschlossen. Damit entsteht ein vom restlichen Körper abgeschlossenes Milieu . Falls in tieferen Dentinschichten vereinzelte Bakterien überleben, fehlt ihnen der Nachschub an Nährstoffen und Sauerstoff; sie geraten in eine Art Dauerschlaf oder sterben ab. Ein gut gefüllter Wurzelkanal “sperrt” die Keime ein. Endodontologen sprechen von einem „sealed system“ – einem versiegelten System, das gerade keine offene Verbindung mehr zwischen Mundhöhle und Körperkreislauf darstellt .
Zum Argument der Bakterienstreuung: Selbst ein natürlicher, gesunder Zahn ist nicht keimfrei. In jedem Mund gibt es Bakterien in großer Zahl; bei alltäglichen Vorgängen wie Kauen oder Zähneputzen gelangen temporär Bakterien in den Blutkreislauf. Dieses Phänomen nennt man transiente Bakteriämie. Der Körper geht damit routinemäßig um. Studien zeigen z.B., dass nach dem Zähneputzen bei bis zu 25 % der Menschen kurzzeitig Bakterien im Blut nachweisbar sind – jedoch ohne Krankheitsfolgen, da das Immunsystem diese schnell eliminiert. Vor diesem Hintergrund ist die Vorstellung, ein stillgelegter, gefüllter Zahn würde dauerhaft gefährliche Bakterien in den Körper „pumpen“, äußerst zweifelhaft. Experten erläutern, dass selbst wenn nach einer Wurzelbehandlung minimal Bakterien austreten, diese von der körpereigenen Abwehr in der Regel innerhalb von Sekunden unschädlich gemacht werden .
Zudem: Wäre ein wurzelbehandelter Zahn wirklich eine permanente Quelle systemischer Bakterien, müssten Patienten nach der Behandlung Zeichen einer chronischen Blutvergiftung (Sepsis) oder andere Infektionszeichen zeigen. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Im Gegenteil gehören Wurzelbehandlungen zu den Routineeingriffen, nach denen Patienten in aller Regel rasch genesen. Schwere systemische Infektionen aufgrund endodontischer Behandlungen sind in der Literatur extrem rar. Ein Risiko besteht eher, wenn man auf Wurzelbehandlungen verzichtet und infizierte Zähne im Mund belässt – dann kann sich ein Zahnabszess unbehandelt ausweiten und im schlimmsten Fall tatsächlich zu einer Gesichts- und Halsweichteilinfektion (Ludwig-Angina) oder Endokarditis führen. Gerade deshalb sind Wurzelkanalbehandlungen ja so wichtig: Sie eliminieren den Infektionsherd und verhindern eine Ausbreitung von Bakterien .
Fachleute fassen den Sachverhalt so zusammen: „Wurzelkanalbehandlung findet in einem geschlossenen System statt und ist bei korrekter Durchführung sicher“ . Die Gefahr einer fortgesetzten bakteriellen Streuung aus einem endodontisch versorgten Zahn ist verschwindend gering . Es gibt keinerlei Hinweis, dass solche Behandlungen das Immunsystem dauerhaft überlasten oder zu chronischen Entzündungen anderswo im Körper führen. Die American Association of Endodontists betont, dass moderne endodontische Techniken hoch effektiv sind und die Erfolgsraten sehr hoch liegen (über 90 %) – Komplikationen beschränken sich überwiegend auf den behandelbaren Bereich (z.B. Bedarf einer Nachbehandlung bei Persistenz der lokalen Entzündung) und nicht auf mysteriöse Fernwirkungen.
Fazit: Die Aussage, Wurzelkanäle ließen sich nicht desinfizieren und stellten Zeitbomben für systemische Infektionen dar, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Bei Beachtung der geltenden Richtlinien (vollständige Aufbereitung, Desinfektion, dichte Füllung) ist das Restrisiko minimal und vergleichbar mit dem Risiko anderer Routineeingriffe in der Medizin . Vielmehr ermöglicht die Endodontie, dass ein vormals infizierter Zahn erhalten bleibt, ohne weiterhin Bakterienherd zu sein – zum Nutzen der Allgemeingesundheit .
4. Behauptung: Nahezu alle chronischen Erkrankungen seien dentalen Ursprungs („toxische Zeitbomben“)
Diese besonders weitreichende Behauptung entspricht der radikalen Form der historischen Herdinfektionstheorie (Fokalinfektion). Demnach sollen chronische Krankheiten praktisch immer durch verborgene Infektionsherde – oft in Zähnen, Mandeln oder Nebenhöhlen – verursacht werden. Root Cause zeichnet das Bild, jeder wurzelbehandelte Zahn könne wie eine „tickende toxische Zeitbombe“ den Körper mit Krankheiten überziehen.
Die Geschichte dieser Idee: Anfang des 20. Jahrhunderts, als Antibiotika noch unbekannt waren, suchten Ärzte fieberhaft nach den Ursachen chronischer Leiden. Einige meinten, z.B. Arthritis, Nierenleiden oder Hauterkrankungen würden durch chronische Eiterherde in Zähnen oder Mandeln unterhalten. In den 1910er und 1920er Jahren führte dies in den USA und Europa zu einer Welle der „Sanierung um jeden Preis“: Zahnärzte zogen tausenden Patienten vorsorglich alle Zähne, selbst wenn diese keine akuten Beschwerden machten, in der Hoffnung, damit etwa Rheuma oder Herzleiden zu heilen . Diese indiskriminanten Massen-Extraktionen stellten sich jedoch als Irrweg heraus . Die entfernten Zähne waren oft gesund oder hätten erhalten werden können; die systemischen Erkrankungen besserten sich meistens nicht. Bereits 1940 kritisierte ein einflussreicher Artikel in der Fachzeitschrift JAMA die Fokalinfektionstheorie scharf . 1951 widmete die Journal of the American Dental Association (JADA) dem Thema ein ganzes Heft, das die früheren Experimente und Schlussfolgerungen auseinander nahm . Dort wurde aufgezeigt, dass die alten Studien gravierende methodische Mängel aufwiesen – etwa fehlende Kontrollgruppen und unkontrollierte bakterielle Dosen – und dass es keine belastbaren Daten für die Heilung systemischer Erkrankungen durch Zahnentfernungen gab .
Heutiger Wissensstand: Die pauschale Aussage, „alle chronischen Krankheiten kommen von Zähnen“, ist definitiv falsch. Chronische Volkskrankheiten wie Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Leiden, Autoimmunerkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen etc. haben jeweils komplexe, multifaktorielle Ursachen. Zahngesundheit spielt für die Allgemeingesundheit zwar eine Rolle (man weiß z.B., dass Parodontitis einen Risikofaktor für Herzinfarkt und Frühgeburten darstellt, oder dass unbehandelte Zahninfektionen in seltenen Fällen schwere Komplikationen wie Endokarditis auslösen können). Aber das bedeutet nicht, dass meistens die Zähne die Ursache aller Übel sind. Vielmehr können systemische Erkrankungen auf Zähne wirken – z.B. führt Diabetes zu höherer Infektionsanfälligkeit im Mund, oder Osteoporose kann Kieferknochenschwund begünstigen. Die Wechselwirkungen sind komplex, aber keineswegs einseitig von Zahn zu Körper.
Moderne Zahnmedizin und Medizin sehen die Fokalinfektionstheorie in ihrer extremen Form als widerlegt an . Ein führender Endodontie-Professor formulierte: „Das veraltete Konzept, dass alle devitalen (abgestorbenen) Zähne – egal ob korrekt behandelt oder nicht – eine Vielzahl systemischer Krankheiten auslösen, wurde im Laufe des letzten Jahrhunderts durch eine Fülle wissenschaftlicher Evidenz widerlegt.“ . Ebenso bezeichnen Fachleute die Forderung, alle wurzelbehandelten Zähne zu ziehen um chronische Krankheiten zu heilen, als fachlich nicht zu rechtfertigen und ethisch bedenklich . Patienten aus angst vor „Zahnherden“ wichtige Zähne zu entfernen, ohne echte Indikation, wird klar abgelehnt.
Zusammengefasst: Zähne sind nicht die „Wurzel allen Übels“. Zwar sollte jede lokale Infektion im Mund ernst genommen und behandelt werden. Aber die überwältigende Mehrheit chronischer Erkrankungen hat nichts mit wurzelgefüllten Zähnen zu tun. Die pseudowissenschaftliche Behauptung, praktisch alle chronischen Leiden seien dentalen Ursprungs, entbehrt jeglicher solider Evidenz und wurde historisch bereits ad absurdum geführt . Heutzutage profitieren Patienten davon, dass Zähne erhalten und Infektionen durch Endodontie saniert werden können, anstatt Zähne vorschnell zu verlieren. Dies verbessert Lebensqualität (Kauen, Ästhetik) und schadet nachweislich nicht der Allgemeingesundheit – im Gegenteil, die Zahnsanierung beseitigt potentielle Entzündungsherde, was tendenziell positiv für die Gesundheit ist.
5. Dr. Weston Price und die wissenschaftliche Rezeption seiner Arbeiten
Wer war Weston Price? Dr. Weston A. Price (1870–1948) war ein US-Zahnarzt, dessen Forschungsarbeit häufig von Verfechtern der oben diskutierten Thesen zitiert wird. In den 1920er Jahren führte Price Experimente durch, die ihn glauben ließen, Wurzelkanalbehandlungen würden systemische Krankheiten verursachen. Er propagierte daher, infizierte Zähne lieber zu ziehen als zu erhalten . Seine bekannteste Versuchsanordnung: Er entnahm Patienten mit verschiedenen Krankheiten wurzelbehandelte Zähne und implantierte diese Zahnfragmente in Kaninchen. Angeblich entwickelten die Tiere kurz darauf genau die gleichen Krankheiten wie die Patienten – z.B. Herzinfarkt, Arthritis oder Krebs . Price veröffentlichte 1923 ein Buch über diese Ergebnisse und gilt als ein Vater der Fokalinfektionstheorie in der Zahnheilkunde .
Warum gelten Prices Ergebnisse heute als widerlegt? – Die beschriebenen Experimente weisen aus heutiger Sicht gravierende Fehler auf. Zum einen waren sie nicht kontrolliert: Es gab keine adäquate Kontrollgruppe von Tieren, keine Verblindung und keine statistische Auswertung nach heutigem Standard . Zum anderen fanden sie in einer Zeit vor modernen Steriltechniken statt – die Möglichkeit, dass die Kaninchen durch unspezifische Bakterienkontamination erkrankten (und nicht spezifisch durch den Zahn) ist sehr hoch. Spätere Forscher konnten Prices Resultate nicht reproduzieren . Tatsächlich widerfuhr vielen der armen Kaninchen einfach eine Blutvergiftung oder sie starben an der operativen Prozedur selbst, was Price fehlinterpretierte. Schon ab den 1930er Jahren gerieten seine Theorien in die Kritik, und 1951 – wie erwähnt – veröffentlichte die JADA eine umfassende Widerlegung . Darin wurde hervorgehoben, dass Price u.a. viel zu hohe Mengen an Bakterien verwendet hatte, was zu nicht spezifischen Krankheitsreaktionen führte .
Aktuelle Bewertung: Weston Price wird heute in der wissenschaftlichen Zahnmedizin als historisch bedeutsam, aber überholt eingeordnet. Seine Arbeiten werden oft von alternativmedizinischen Kreisen (darunter die Weston A. Price Foundation) angeführt, um vor modernen zahnärztlichen Verfahren zu warnen. Allerdings beruft man sich damit auf beinahe 100 Jahre alte Experimente, die dem Stand der Forschung des 21. Jahrhunderts nicht standhalten. Die American Association of Endodontists bezeichnet Prices Theorie und die daraus resultierende Massen-Extraktion von Zähnen als „erschreckende Ära“ der Zahnmedizin . Sie stellt fest: „Diese falsche Behauptung [gemeint ist die systemische Wirkung devitaler Zähne] basierte auf längst widerlegter und schlecht konzipierter Forschung von vor fast einem Jahrhundert“ . Bereits 1940 erschien eine kritische Analyse, und Jahrzehnte weiterer Studien haben keinen kausalen Zusammenhang zwischen wurzelbehandelten Zähnen und systemischen Krankheiten belegen können . Heutige Endodontie legt den Fokus darauf, Infektionen ohne unnötigen Zahnverlust zu beherrschen – mit Erfolg: „Fortschritte in Parodontologie und Endodontie ermöglichen es, orale Infektionen zu kontrollieren, ohne Zähne zu entfernen“ . Dieses Paradigma hat sich als schonender und effektiver erwiesen als Prices radikaler Ansatz.
Zusammengefasst: Dr. Weston Price’s Befunde sind aus wissenschaftlicher Sicht widerlegt. Sie erklären die Entstehung der Mythen um „toxische Zähne“, dürfen heute aber nicht als gültige Evidenz angesehen werden. Fachgesellschaften weltweit (ADA, AAE, DGZMK etc.) distanzieren sich klar von diesen historischen Irrlehren und stützen sich stattdessen auf moderne, evidenzbasierte Forschung.
6. Behauptung: Energetische/mikrobiologische Verbindungen zwischen bestimmten Zähnen und Organen (Meridiane)
Im Film wird angedeutet, dass Zähne über sogenannte Meridiane mit bestimmten Organen verbunden seien – ein Konzept, das aus der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) stammt . So soll etwa ein infizierter Schneidezahn entlang eines „Energieleitungs-Meridians“ z.B. die Brustdrüse schwächen und Brustkrebs fördern, oder ein Weisheitszahn über Meridianbahnen mit dem Herzen verbunden sein etc. Diese Ideen finden sich auch auf alternativen „Zahn-Organ-Karten“, die ganzheitliche Zahnmediziner nutzen.
Wissenschaftliche Bewertung: Es gibt keine wissenschaftlichen Belege für die Existenz solcher Meridiane im anatomischen Sinne . „Meridianlinien“ sind ein Konzept der TCM, das Lebensenergie (Qi) in Bahnen durch den Körper fließen lässt . Naturwissenschaftlich konnte bislang kein anatomisches Korrelat dafür gefunden werden – Medizinhistoriker bezeichnen den Begriff in diesem Kontext als metaphorisch und nicht im wörtlichen Sinn passend . Anders ausgedrückt: Meridiane sind keine realen physischen Strukturen, sondern Teil eines alternativmedizinischen Modells .
Auch die Idee einer exklusiven „Mikroben-Wanderung“ entlang von Meridianen entbehrt jeder Grundlage. Bakterien bewegen sich im Körper über bekannte Routen: vor allem über die Blutbahn oder Lymphbahnen. Wenn ein Zahnherd z.B. eine endokarditis (Herzklappenentzündung) verursacht, dann indem Bakterien über den Blutstrom ins Herz gelangen – nicht über ein unsichtbares Meridian-Netz. Die Dokumentation Root Cause vermischt hier TCM-Vorstellungen (Meridian = Energiebahn) mit mikrobiologischen Prozessen, was äußerst irreführend ist . Selbst in der Akupunktur gilt: Zwar wird dort jedem Zahn ein Organ zugeordnet, aber das beruht auf jahrhundertealten Erfahrungslehren, nicht auf messbaren direkten Verbindungen.
Wissenschaftliche Untersuchungen zu „Zahn-Organ-Wechselwirkungen“ betrachten meist systemische Entzündungsreaktionen. Beispielsweise kann eine schwere Parodontitis proinflammatorische Zytokine erhöhen, welche auch Gefäße schädigen – so erklärt man statistische Verbindungen zwischen Zahnfleischentzündung und Herzinfarkt. Direkte organbezogene Fernwirkungen im Sinne eines „Energieflusses“ vom Zahn X zum Organ Y sind jedoch nicht nachgewiesen. Eine umfassende Faktensuche ergab: „Keine wissenschaftlichen Evidenzen unterstützen die Behauptung, dass jeder Zahn mit einem bestimmten Organ in Verbindung steht. Diese Idee basiert offenbar auf der traditionellen chinesischen Medizin.“ . Entsprechend verneinen anerkannte Experten eine solche starre Kopplung.
Resümee: Die Vorstellung von energetischen oder gar bakteriellen Verbindungen über Meridiane zwischen einzelnen Zähnen und fernen Organen gehört in den Bereich der Alternativheilkunde, nicht der evidenzbasierten Medizin. Schulmedizinische Fachgesellschaften erkennen Meridiane als anatomische Gegebenheit nicht an . Patienten sollten daher skeptisch sein, wenn pauschal behauptet wird, ein bestimmter kranker Zahn schade einem bestimmten Organ – in der wissenschaftlichen Zahnheilkunde wird stets der ganze Mensch mit all seinen individuellen Risikofaktoren betrachtet, anstatt mystische Linien als Erklärung für komplexe Krankheiten heranzuziehen.
7. Haltung anerkannter Fachorganisationen (ADA, DGZMK, medizinische Fachgesellschaften)
Die in Root Cause verbreiteten Hypothesen werden von zahnmedizinischen Fachgesellschaften weltweit einhellig zurückgewiesen. Einige Beispiele:
- Die American Dental Association (ADA), die American Association of Endodontists (AAE) und die American Association for Dental Research (AADR) haben Anfang 2019 – kurz nach Erscheinen des Films auf Netflix – einen gemeinsamen Brief an Streaming-Plattformen veröffentlicht. Darin warnten sie, Root Cause verbreite „längst widerlegte Behauptungen“, und eine weitere Verbreitung könne der Öffentlichkeit schaden . Sie verwiesen darauf, dass die Prämisse des Films auf über 90 Jahre alten Experimenten basiere, „die später widerlegt wurden, weil die Versuche schlecht kontrolliert und unter nicht-sterilen Bedingungen durchgeführt worden waren“, und die Ergebnisse von unabhängigen Forschern nie bestätigt werden konnten . Infolge dieses Schreibens und öffentlichen Drucks wurde die Dokumentation tatsächlich von Netflix, Amazon u.a. Plattformen entfernt .
- Stellungnahmen in Fachzeitschriften: Die British Dental Association (BDA) informierte ihre Mitglieder ebenfalls über den Film und nannte die dortigen Behauptungen „Desinformation“. In einem vom British Dental Journal zitierten Rundschreiben betonte die BDA: „Es gibt keine gültigen wissenschaftlichen Beweise für einen Zusammenhang zwischen Wurzelkanalbehandlung und irgendeiner anderen Krankheit, einschließlich Krebs.“ . Stattdessen erinnern sie daran, dass durch Wurzelbehandlungen infizierte Zähne gerettet werden können – allein in Großbritannien über 500.000 Mal pro Jahr – und so weitere Infektionen verhindert werden . Die AAE veröffentlichte auf ihrer Website ein Papier „Root Canal Safety“, das die gängigen Mythen (angefeuert durch YouTube-Videos und Filme wie Root Cause) entkräftet: Darin wird Prices alte Forschung als fehlerhaft dargelegt und betont: „Es gibt keinen validen Nachweis, dass Wurzelbehandlungen Krankheiten anderswo im Körper auslösen.“ .
- Deutsche Fachgesellschaften: Die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) hat zwar keine offizielle Pressemitteilung zu Root Cause herausgegeben, doch auch in Deutschland wurden diese Thesen von führenden Experten klar widerlegt. Auf dem Deutschen Zahnärztetag 2021 präsentierte z.B. Prof. Edgar Schäfer (Uni Münster) eine ausführliche Analyse des Films. Er zeigte, dass die dort zitierten „Studien“ und Zahlen einer Überprüfung nicht standhalten: Eine eigene PubMed-Recherche ergab, dass die im Film genannten Experten keine einschlägigen Publikationen zu Wurzelkanälen vorweisen konnten . Die Behauptung „90 % der Krebspatienten haben Wurzelbehandlungen“ erklärte Schäfer als triviale statistische Folge der hohen Verbreitung von Zahnbehandlungen – nicht als kausalen Zusammenhang . Sein Fazit war sinngemäß: Ein einzelner Zahn (im Film war es „Zahn 21“) ist höchstwahrscheinlich nicht der alleinige Grund für komplexe Erkrankungen wie das Chronic-Fatigue-Syndrom des Filmemachers . In der deutschen Zahnärzte-Presse wurde Root Cause teils scharf kritisiert; eine Überschrift nannte den Film das „Who-is-Who der Quacksalber“ – ein Hinweis darauf, dass die dort auftretenden „Experten“ überwiegend aus dem alternativmedizinischen Milieu stammen und für wissenschaftlich unbelegte Praktiken bekannt sind. Auch die Zahnärztlichen Mitteilungen (offizielles Organ der Bundeszahnärztekammer) bezeichneten den Filminhalt als „haarsträubenden Unsinn“ (Zitat) und berichteten von Verunsicherung bei Patienten, der die Zahnärzteschaft mit Aufklärung begegnen müsse.
- Medizinische Fachgesellschaften: Organisationen wie die American Cancer Society oder kardiologische Fachkreise haben sich ebenfalls zu Wort gemeldet, da Patienten mit Krebs oder Herzleiden durch solche Dental-Mythen verunsichert werden. Ein Epidemiologe der American Cancer Society stellte klar, dass es keinerlei Studien gibt, die ein erhöhtes Krebsrisiko durch Wurzelbehandlungen zeigen – und warnte, dass die Fokussierung auf solche Mythen Patienten davon abhalten könnte, sich auf belegte Risikofaktoren zu konzentrieren (wie Rauchen, Übergewicht, späte Vorsorgeuntersuchungen) . Kardiologen verweisen darauf, dass gute Mundhygiene und die Behandlung akuter Zahninfektionen wichtig für die Herzgesundheit sind – aber eine korrekt durchgeführte Wurzelkanalbehandlung gilt auch aus internistischer Sicht als sinnvoll und nicht schädlich.
Zusammenfassung: Alle namhaften zahnmedizinischen und medizinischen Fachgesellschaften beurteilen die in Root Cause aufgestellten Hypothesen als unwissenschaftlich und widerlegt. Die konsistente Botschaft lautet, dass Wurzelkanalbehandlungen sicher und nützlich sind, um lokale Zahninfektionen zu beseitigen, und dass kein erhöhtes Risiko für systemische Erkrankungen dadurch besteht . Patientinnen und Patienten wird geraten, sich bei Fragen an qualifizierte Zahnärzte zu wenden und nicht auf angstmachende Einzelberichte hereinzufallen. Die Vorstellung, nahezu alle chronischen Krankheiten würden von „verborgenen Zahnherden“ verursacht, ist seit Jahrzehnten widerlegt . Seriöse Medizin stützt sich auf robuste wissenschaftliche Evidenz – und diese spricht klar für die Endodontie als Teil einer ganzheitlichen Gesundheitsvorsorge, nicht dagegen.
Literatur und Quellen: Die vorstehenden Aussagen wurden mit aktuellen Übersichtsarbeiten, Studien und Stellungnahmen belegt, u.a. durch Publikationen in JAMA Network , British Dental Journal , Faktenchecks (AAP, PolitiFact) sowie Fachbeiträge von Universitätszahnärzten . Sie widerspiegeln den Forschungsstand bis mindestens 2024. Die eindeutige Schlussfolgerung lautet, dass die Kernthesen aus „Root Cause“ wissenschaftlich nicht fundiert sind.